Das neue Theaterstück von Art East handelt von Nikolaj Frolov, einem Zeitungsredakteur aus dem Moskau nahegelegenen Podolsk. Ohne Grund wird er verhaftet und findet sich wieder in einem Strudel aus grotesken Verhörmethoden und der Suche nach seinem Platz in der Gesellschaft. Dafür soll das Verhör wegweisend sein.
Das Bamberger Theaterensemble von Art East hat sich Stücken – vor allem – slavischer Herkunft verschrieben. Nun feierte Art East in der Skateboardhalle des Jugendzentrums Bamberg die Premiere von „Der Mann aus Podolsk“ als Antwort auf die Ur-Inszenierung von Dmitry Danilov von 2017. Dabei handelt es sich um ein russisches Polizeiverhör, bei dem ein grundlos verhafteter Zeitungsredakteur aus Podolsk an seine Grenzen gebracht wird. Der antrieblose Protagonist, der als einzige handelnde Person ungeschminkt ist, ist eine arme Seele aus dem Moskauer Niemandsland, die nicht weiß, wie ihr geschieht. Denn sein mögliches Vergehen soll erst im Laufe der Befragung ermittelt werden. Skurril-witzig verpackter Klamauk und unterhaltsam vom Startschuss bis zum Ende. Lineare Handlung, satirisch, spitzzüngig, gesellschaftskritisch und gespickt mit pointierten, messerscharfen Dialogen; Gesänge im Kanon, ein Cast, der schauspielerisch zu überzeugen weiß und ausgefallene Bühnenelemente. All das bietet „Der Mann aus Podolsk“.
Ungewöhnliche Bühne
Die Bühne ist durchaus ungewöhnlich, stehen die vier Schauspieler:innen unter Zuhilfenahme von Spanngurten auf einer Halfpipe in einer Skateboardhalle, dem Ort der Aufführung. Viel mehr als eine Bühnenkante steht ihnen für ihre Handlungen demnach nicht zur Verfügung, was das Sprechen unter Wahrung der Körperbeherrschung für die Akteur:innen zu einem Balanceakt macht, möchte man meinen. Doch im Gegenteil – nahezu schwebend flanieren sie dahin und schmettern dem Publikum eine frappierende Menge an Botschaften, die zum Nachdenken anregen sollen, unverblümt hin. Nicht die herausragend spitzzüngigen Worte an sind es, die Eugeniya Ershova (Polizeioberkommissarin) Benjamin Gehrig (Polizeibeamter), Armin Gradl (Nikolaj Frolov) und Christine Renker (Polizeioberkommissarin) dem Publikum mit auf den Weg geben sollten, sondern viel mehr das, was zwischen den Zeilen steht.
Moderne und Vergangenheit
Zur Verstärkung der Botschaften und der Handlung an sich nutzen die Regisseurinnen allerhand elektronische Medien, die geschickt, situativ eingesetzt werden: Handys (die auch mal gerne durch die Gegend fliegen), Laptops, Tageslichtprojektoren, Beamer, eine Tafel und ein Chartboard. Live-Mitschriften auf der Computertastatur und per Hand an der Tafel, als auch Smartphonescrolls und Videos auf der Leinwand und Tageslichtprojektorfolien, die eine starke Reminiszenz an die eigene Schulzeit darstellen, sind zentraler Bestandteil der Bühnenausstattung. Kristina Kroll und Michelle Wiederkehr verstehen es, Moderne und jüngere Vergangenheit geschickt miteinander zu kombinieren und dem Stück dadurch mehr Authentizität zu verleihen.
Takeshi’s Castle oder Verhör?
Inhaltlich bedient sich das nicht ganz klassische Verhör skurrilster Methoden. Der Protagonist muss sich unterschiedlichen Prüfungen unterziehen, darunter Rhythmus- und Tanzübungen und einer Art Quiz, das stadtgeografische und grammatikalische Fragen beinhaltet . Die Darstellung erinnert dabei eher an ein Gameshow-Format im Stil von Takeshi‘s Castle, bei dem Körper und Geist gefragt sind. So muss Nikolaj Frolov angegurtet auf der Skater-Halfpipe in der Horizontalen laufen und im Zuge dieser „komplexen Bewegungsabfolge“ ungewöhnliche Lautkombinationen wiederholen: „Kamehameha!“, als Anspielung auf den Anime-Klassiker Dragon Ball Z.
Diese Bloßstellung sei allerdings nur eine Herangehensweise, um den Menschen und seine Gefühlswelten besser kennenzulernen, betont eine Polizeioberkommissarin (Christine Renker).
Podolsk: ein Juwel im Moskauer Umland
Der besondere Fokus bei der Befragung liegt auf der Heimatstadt von Nikolaj Frolov: Podolsk. Gefragt wird etwa nach der Einwohnerzahl und dem Jahr, in dem Podolsk das Stadtrecht verliehen wurde. Denn nur so könne man ermitteln, ob der junge Mann auch wirklich aus Podolsk stamme. Euphemistisch glorifiziert werden von einer Polizeioberkommissarin die hässlichen Seiten der Schwerindustrie, die in Podolsk vorzufinden ist: „Sicher, es gibt dort keine Kanäle wie in Paris und keine Rotlichtviertel wie in Amsterdam, aber ist wunderschön.“ Vergleiche mit den Weltmetropolen werden konstruiert. Der Mann aus Podolsk hingegen hasst seine Stadt und muss aus diesem Grund im Sinne der Umerziehung ein Plädoyer zu Ungunsten seiner Heimatstadt abhalten. Im Gespräch unternehmen Polizei und der Verhörte allerhand geografische, religiöse und historische Ausflüge.
Abwechselnd wird Nikolaj dabei von den drei Polizist:innen in die Mangel genommen und erfährt sowohl verbale als auch körperliche Gewalt. Bei Nicht-Beantwortung oder falscher Antwort wird ihm Unvermögen, Denkfaulheit und Phlegma attestiert. Dabei werden immer wieder auf sarkastische Art und Weise zu allerlei Themen Parallelen zur UDSSR gezogen. Beipielsweise möchte eine der beiden Polizeioberkommissarinnen von Nikolaj nicht als „Genossin“ bezeichnet werden: „Polizeioberkommissarin! Genossen haben wir ’93 abgeschafft.“
Freiheit oder Alptraum?
Das Verhör wird zunehmend absurder und nimmt kafkaeske Züge eines Alptraumszenarios an. Der Mann aus Podolsk wird ins Gesicht geschlagen und hörig gemacht, ja fast schon domestiziert. Man wolle ihm mit dem sadistischen Verhör einen Lebenssinn und Patriotismus vermitteln, der ihm nach Staatsräson fehle. Und das in einer Art Untersuchungshaft. Die Polizei nimmt Nikolaj die Freiheit, um ihm die vermeintliche Freiheit zu schenken.
„Halber Mensch, wir nehmen für dich wahr! Wir triggern deine Sinne!“
Beim Mann aus Podolsk handelt es sich um eine komplette Verkehrung bestehender gesellschaftlicher Werte- und Normvorstellungen. Unterstrichen wird diese Verkehrung durch stakkatoartig skandierte Ausrufe wie „Wir mögen den Irrsinn!“ Durch ständig wiederholte Sätze versuchen die Verhörenden dem Verhafteten, dem nichts zur Last gelegt werden kann, zu verunsichern und in den Wahnsinn zu treiben – und ihn im Endeffekt zu brechen. Mögliche Szenarien wie „der Fund von weißem Pulver“ werden als Haftgründe genannt. Eine Absurdität folgt der Nächsten. Dem Zeitungsredakteur könne nicht geglaubt werden, weil ohnehin niemand seine Zeitung kenne. Die Begründung: einer der Polizisten habe noch nie etwas von dem Blatt gehört. Daraus ziehen die Polizeioberkommissarinnen den allgemeingültigen Schluss, niemand kenne die Zeitung. Solche Dialoge können Medienkritik am modernen Russland gesehen werden. Die Anspielungen auf die heutige, desolate Informationslage in Russland kommen nicht zu knapp: „Halber Mensch, wir nehmen für dich wahr! Wir triggern deine Sinne!“, ein Auszug aus einem Lied von Einstürzende Neubauten.
Das Z-Symbol in Russland
Das sind eindeutige Protest-Botschaften gegen den Völkerrechtsbruch Russlands gegen die Ukraine. Interessanterweise findet das „Z“ noch einmal seinen Platz, dieses Mal allerdings nicht im Dragonball-Kontext, sondern symbolisch im Video zur Desinfomationslage und Kriegszustimmung der Bevölkerung Russlands. Das „Z“-Symbol steht stellvertretend für die Unterstützung der russischen Armee in der Ukraine. Hierbei kreieren die Regisseurinnen durch den Einsatz von „Moskau… Russland ist ein schönes Land“ (Dschinghis Khan) eine Text-Bild-Schere. Allgemein tauchen im Stück viele politische Messages sehr sichtbar auf oder sie werden am Rande eingestreut, beispielsweise Bilder von Putin und Stalin auf den Projektorfolien.
Polizeiverhör versus Irrenhaus
Das gesamte Verhör ist geprägt von Verallgemeinerungen und Gegenüberstellungen, bei denen immer eine Seite ausgespielt wird, selbst zu Ungunsten der Polizei. Ein Beamter wird – dem Verhörten gleichermaßen – nach einigen unachtsamen Äußerungen mit Handschellen fixiert. Im Laufe des Stücks kommt bei Nikolaj Frolov zunehmend die Frage auf, ob es sich hierbei wirklich um die Polizei handle. Wiederholt tun die Beamt:innen ihre Arbeit als normale Polizeiarbeit ab und rechtfertigen diese Farce unverblümt: „Alle denken immer ‘Irrenhaus und so…, aber ja, das ist die Wirklichkeit!‘“
Dem Mann aus Podolsk sollen unter Zuhilfenahme von Deppentests jegliche Illusionen von fairer Polizeiarbeit genommen werden: Was sieht er im Zug auf dem Weg zur Arbeit in Moskau? Welche Farbe haben die Zugtüren? Die Zugfahrt könnte symbolisch für die Achterbahn der Gefühle Nikolaj Frolovs stehen. Das musikalische Fundament bildet in dieser Szene völlig unpassende, fröhliche Keyboardmusik. Kontroversen bestimmen das Stück, auch musikalisch.
„Wie kann man da von Gefallen und Nicht-Gefallen sprechen? Das ist, als würde man Malewitschs Schwarzes Quadrat infrage stellen!“
Lieblingsband Einstürzende Neubauten
Musik ist ein zentrales Element der Inszenierung von Kristina Kroll und Michelle Wiederkehr. Zwangs-Choreinlagen, Tanz und Hymnen bestimmen die Handlung. Hinter der „Moskauer Hymne“ verbirgt sich der deutsche Hitparaden-Klassiker „Moskau“ von Dschinghis Khan, frenetisch bejubelt und beklatscht von den Darstellenden und vom Publikum. Ganz besonders wichtig ist die zuvor bereits erwähnte deutsche Industrialband Einstürzenden Neubauten, eine Kultband der 80er. Alle Beteiligten sind große Fans und unterhalten sich angeregt. Ein neuer Maßstab wird festgesetzt: Die Einstürzenden Neubauten sind ab hier im Stück – krass gesagt – der Endgegner. Die gesamte Musikwelt muss sich mit ihnen messen und wird auch daran bemessen. Erstmalig finden der unschuldig Verhaftete Nikolaj Frolov und die Polizei einen Konsens. Die Werke der Band werden verabsolutiert, als seien sie der heilige Gral. Ausufernde, krude Vergleiche mit Amsterdamer EDM und sowjetischen Ikonen werden gezogen. Eine der Polizeioberkommissarinnen (Eugeniya Ershova) zelebriert eine grotesk wirkende Lobesrede: „Wie könnte man von Gefallen und Nicht-Gefallen reden? Das ist als würde man Malewitschs Schwarzes Quadrat infrage stellen!“
Die Moskauer Polizei als Amor
Nikolaj bekennt sich dazu, Musiker zu sein und behauptet, niemand in diesem Land höre gute Musik. In bekannter Verhörsmanier lautet die Antwort der Polizei: „… nur weil keiner deine Band kennt.“ Und er wird auch weiterhin drangsaliert, indem er über die Band seiner Freundin Nasser Puschkin ausgefragt wird. Doch das Verhör wird noch weitreichender, indem künstlich Vergleiche zwischen Nikolaj Frolovs aktueller und seiner Ex-Freundin gezogen werden, und sich dieses Irrsinnsszenario auf eine Tabuebene bewegt. Dem Mann aus Podolsk richtige Liebe beizubringen, sehen die Polizist:innen auch als ihre Aufgabe.
„Sie behaupten, wir würden sie quälen. Das tut weh!“
Zu guter Letzt erfährt der Protagonist, dass das Verhör noch schlimmer sein könnte: „Sie behaupten, wir würden Sie quälen. Das tut weh!“
Dystopie oder Wirklichkeit, das vermag der Autor nach dieser realistischen Darbietung eines absurden Szenarios nicht zu beurteilen. Das Theaterstück biete tolle Unterhaltung mit Bezug zur bittersüßen Realität und einer gehörigen Portion Polizei- und Gesellschaftskritik und einer Schaupielgruppe, die das Szenario nicht nur aufführt, sondern lebt.